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Donnerstag, 16. Mai 2019

Wie Marcelo Bielsa Leeds United verändert hat

Gestern Abend schied Marcelo Bielsa mit Leeds United in den Aufstiegs-PlayOffs aus. Doch wer ist der Trainer, den Guardiola verehrt und der Simeone und Sampaoli inspirierte ? Eine Spurensuche.
Mit dem zweiten Gegentreffer beginnt der Zweifel die ausverkauften Ränge des Stadions an der Elland Road hochzukriechen. Bedrohlich wie das Monster im Horrorfilm, das besiegt schien und nun mit fürchterlichen Klauen doch wieder nach seinen Opfern greift. Die vierte Niederlage in den letzten sechs Spielen zeichnet sich ab und der Verlust der Tabellenspitze. »Leeds are falling apart – again«, singen die Gästefans höhnisch zur Melodie von Joy Divisions »Love Will Tear Us Apart«. Der Rest des Stadions schweigt. Schafft es Leeds United etwa wieder nicht, einen Vorsprung über die Saison zu bringen und endlich in die Premier League zurückzukehren? Ist Marcelo Bielsa doch nicht das Genie, den Pep Guardiola für »den besten Trainer der Welt« hält, sondern eben »El Loco«? Der Verrückte, dessen Mannschaften zum Ende der Saison ausgebrannt ihre Ziele verpassen?

Die auf den Tribünen sind mit dem Zweifel nicht allein. Bielsa geht mit hinter dem Rücken verschränken Armen die Coaching Zone auf und ab, den Blick auf den Boden geheftet. Niemand ist eher bereit, ihm die Schuld an Niederlagen zu geben als Bielsa selbst. Seine Stürmer mögen die größten Chancen vergeben und seine Verteidiger patzen, doch nach dem Spiel, das gegen Norwich wirklich verlorengeht, wird er sagen: »Dafür ist immer der Trainer verantwortlich.«

In der Literatur gibt es Schriftsteller, die das Publikum kaum kennt, die aber von anderen Schriftstellern verehrt werden. Es gibt Filmemacher, die nie einen Kassenerfolg hatten, aber eine Inspiration für viele Regisseure sind. Marcelo Bielsa ist in diesem Sinne ein Trainer für die Trainer. Guardiola traf den Argentinier vor ein paar Jahren, und sie redeten 13 Stunden lang über Fußball, in denen der Spanier endlose Seiten mit Notizen füllte. Diego Simeone von Atletico Madrid und Mauricio Pochettino von Tottenham spielten nicht nur unter Bielsa, sondern nennen ihn bis heute als wichtigsten Einfluss. Der ehemalige chilenische Nationaltrainer Jorge Sampaoli hörte sich stundenlang unterm Kopfhörer die Mitschnitte von Bielsas Pressekonferenzen an wie andere ihre Lieblingsband. Auch Belgiens Nationaltrainer Roberto Martinez ist ein Bielsista, ein Mitglied der Kongregation der Bielsa-Gläubigen.

Einmal in der Woche ist in Thorpe Arch ihr Gottesdienst. Vom Stadion aus braucht man mit dem Auto eine halbe Stunde zum Trainingsgelände von Leeds United. Die grimmige postindustrielle Härte der Stadt bleibt auf dem Weg zurück, die Umgebung wird zum englischen Postkartenidyll mit gemütlichen Ortschaften, grünen Hecken und einem gluckernden Flüsschen, über das eine einspurige Steinbrücke führt. In der Abgeschiedenheit von Thorpe Arch ist die Akademie für den Nachwuchs des Klubs untergebracht und trainieren die Profis streng abgeschirmt von der Öffentlichkeit. Stets zwei Tage vor den Spielen öffnet sich das Tor zu dieser Welt einen spaltbreit. Durchs Treppenhaus werden die Journalisten dann in den Raum der Verkündigung gescheucht, ein winziges Zimmer in der ersten Etage, an dessen Decke die Spuren eines alten Wasserschadens zu sehen sind. Drei Reihen cremefarben gepolsterte Louis-XVI-Stühle wirken wie verirrte Gäste aus den umliegenden Landhäusern. Vorne am Tisch, eine Papierwand mit Sponsorenlogos im Rücken, nehmen Marcelo Bielsa und sein Übersetzer Salim Lamrani Platz.

Anderswo wäre das einfach die Pressekonferenz, aber das kann sie hier schon deshalb nicht sein, weil dieser Übersetzer nicht irgendein Co-Trainer ist, der halt Spanisch und Englisch kann. Der Franzose Lamrani trägt einen Doktortitel der weltberühmten Universität Sorbonne in Paris und ist ein international anerkannter Experte für das politische Verhältnis der USA und Kuba. Als Bielsa 2017 in Lille Trainer wurde, lernten sie sich kennen, seither sind sie eng befreundet. Eigentlich ist es absurd, dass so ein Akademiker die Fragen nach verletzten Spielern und den Aussichten fürs nächste Spiel übersetzt, aber nicht hier. Schließlich ist Bielsa ein Gelehrter und Hohepriester des Fußballs, und dies ist eine Mischung aus Vorlesung und Messe.

Der 63-Jährige beantwortet die alltäglichen Fragen nicht nur geduldig, sondern reichert sie mit grundsätzlichen Ausführungen aus seinem Lehrbuch an. »Die Positionen der Flügelspieler sowie der Nummer Neun und Zehn sind die wichtigsten im Fußball. Das zeigt sich auch darin, dass 75 Prozent der Auswechslungen eine dieser vier Positionen betreffen«, sagt er nebenbei auf die Frage nach einem verletzten Stürmer. Geduldig erklärt er die Dinge auch den Begriffsstutzigen im Auditorium: »Ich habe die Situation des Spielers viele Male erklärt, ich kann mich noch erinnern, was ich Ihnen darauf gesagt habe. Dennoch werde ich es noch einmal wiederholen«, sagt er und erklärt wirklich noch einmal, warum einer seiner Spieler nicht einsatzfähig ist.

Bielsa spricht dabei ohne Ironie, ohne Verzierungen oder Fußballsprech in klaren, einfachen Sätzen. Währenddessen reibt er angespannt die Daumen aneinander, und nur in wenigen Momenten schaut er kurz auf, sonst starrt er auf den Tisch vor sich. Angeblich hat er damit angefangen, weil er ohne Ansicht des Fragenden allen gleichermaßen Antwort stehen wollte. Aber es gibt auch Leute, die sagen, dass er einfach sehr schüchtern sei. Interviews gibt er schon lange nicht mehr. Wer etwas wissen will, soll zu seinen Pressekonferenzen kommen, die bei anderen Trainerstationen ausufernd lang waren. In Leeds verhindert das ein betont schlechtgelaunter Pressesprecher. Als Bielsa dann, wie er das immer tut, die Mannschaftsaufstellung fürs kommende Spiel bekanntgibt, wirkt er gar wie ein blinder Seher. Er schaut auf die vor ihm auf dem Tisch liegenden Hände. Die Finger sind ausgestreckt, und als er die Namen der elf Spieler nennt, hebt er sie abwechselnd kurz hoch, als würde er die Mannschaftsaufstellung in Brailleschrift vor sich ertasten.

Ankunft wie die eines Messias


»99 Prozent unserer Fans lieben ihn, und das eine Prozent schläft noch«, sagt Robert Endeacott. Sein Vater arbeitete 26 Jahre lang als Handwerker im Stadion Elland Road. Er selbst ist Mitglied im Vorstand des Leeds United Supporters Trust und hat einige Bücher über den Klub geschrieben. Gerade arbeitet er mit an der großen Vereinschronik, die zum hundertsten Geburtstag des Klubs im Oktober erscheinen soll. Als im vergangenen Sommer durchsickerte, dass Bielsa kommen sollte, sagte ihm der Name so wenig wie den meisten Anhängern. Doch dann stellte Endeacott fest, für wie viel Aufmerksamkeit die Nachricht sorgte, und seither findet er: »Der Klub hat damit seine Ambitionen bewiesen.« Endlich, sagt sein Blick.

1999 wurden Leeds United Dritter in England und erreichte die Champions League, doch 2004 stiegen sie ab. Später sogar für drei peinliche Spielzeiten in die drittklassige League One. All die Jahre waren sie ein notorischer Chaosklub mit windigen Besitzern und trotz phantastischer Zuschauerzahlen permanent leeren Kassen. »In den letzten 15 Jahren gab es viele falsche Hoffnungen und viele falsche Neuanfänge«, sagt Endeacott und überlegt, woran es eigentlich liegt, dass Bielsa die Herzen der Fans von Leeds United so schnell zugeflogen sind. Klar, einerseits spielt die Mannschaft unter ihm erfolgreich, in den besten Momenten sogar aufregend und das mit fast den gleichen Spielern wie im Vorjahr sowie Youngstern aus dem eigenen Nachwuchs. Natürlich kommen seine Eigenheiten und Schrullen dem englischen Vergnügen an Exzentrikern entgegen. Der umgedrehte blaue Eiseimer, auf dem Bielsa am Spielfeldrand sitzt, wird im Fanshop für stolze 80 Pfund angeboten und ist ein Bestseller. Aber letztlich geht es um etwas anderes. »Der Mann ist fanatisch gründlich«, sagt Endeacott, und das sorgt nicht nur bei ihm für das Gefühl, dass sein Verein endlich in guten Händen ist.

Leeds' Spieler sammelten Müll auf


Es ist erstaunlich, dass gerade diesem intellektuellen Trainer aus Argentiniens Bildungsbürgertum die Herzen der Fans zufliegen. Bielsas Vater war Rechtsanwalt, seine Mutter Universitätsdozentin und sein älterer Bruder Rafael sogar mal argentinischer Außenminister. Dennoch hat das Publikum ihn auf all seinen Stationen geliebt, vielleicht, weil er so fanatisch ist wie sie selbst. Als die von Bielsa trainierten Newell’s Old Boys 1992 im eigenen Stadion in der Copa Libertadores mit 0:6 gegen San Lorenzo untergingen, wünschte er sich eine Nacht lang zutiefst, einfach zu sterben, wie er hinterher zugab. In Bilbao faltete er seine Spieler zusammen, weil er nach einer Niederlage im Pokalfinale Lachen gehört hatte. 2014 twitterten Fans von Olympique Marseille gerührt ein Foto von Bielsa, wie er im Trainingsanzug des Klubs bei McDonald‘s saß und völlig versunken ein Spiel am Computer analysierte. Und in Leeds konnten sie kaum glauben, dass er in seinen ersten Tagen die Spieler mal drei Stunden lang um das Trainingsgelände herum Müll aufsammeln ließ. Bielsa hatte sich erkundigt, dass ein einfacher Fan so lange arbeiten muss, um sich die Eintrittskarte zum Spiel leisten zu können.

Aber warum ist er gerade in Leeds? Um den zu treffen, der Trainer und Klub zusammengebracht hat, muss man hinauf in die zweite Etage der Haupttribüne des Stadions. Hinter der schmucklosen Holztür, neben der nüchtern »Offices« steht, sind die Büros von Leeds United. Das von Victor Orta ist fensterlos und mit dem Schreibtisch, einem kleinen Sofa sowie Sessel fast schon voll. Zum Gefühl der Fülle trägt auch der Couchtisch bei, der überladen ist mit Büchern über den Verein und Fußballzeitschriften aus aller Welt. Orta schlägt ein Sonderheft zur J-League auf und sagt: »Das ist Japanisch, und ich kann nichts davon lesen, aber ich bin ein Freak: Ich liebe Magazine!« Der Director of Football hat tausende Fußballzeitschriften gesammelt, das legendäre argentinische Magazin »El Grafico« sogar komplett von der ersten Ausgabe 1920 bis zur letzten, die 2018 erschien.

Auch im Bezug auf Fußball ist er ein Freak mit verrückter Biografie, die der bärtige 40-Jährige übersprudelnd erzählt. Ursprünglich hatte er Chemie studiert, doch das gab Orta auf, als er die Chance bekam, als Journalist zu arbeiten. Mit 24 Jahren hörte ihn der Präsident von Real Valladolid im Radio über Fußball sprechen und war so begeistert, dass er ihm das irrwitzige Angebot machte, Sportdirektor des Klubs zu werden. »Plötzlich habe ich mit Spielern in der Kabine gestanden, die ich einige Jahre zuvor noch nach Autogrammen gefragt habe.« Weil der Quereinsteiger in Valladolid einen guten Job machte, holte ihn Monchi, der legendäre Manager des FC Sevilla, als seine rechte Hand nach Andalusien. Bei Zenit St. Petersburg arbeitete Orta anschließend als Head of Recruitment unter Dietmar Beiersdorfer, und zurück in Spanien schaffte er mit dem FC Elche den Klassenerhalt in der Primera Division – trotz des kleinsten Personaletats aller Klubs der letzten zehn Jahre. Seit anderthalb Spielzeiten ist er in Leeds.

»Bielsa war immer mein Lieblingstrainer«, sagt Orta. Bereits in Sevilla schlug er ihn vor. Manager Monchi bat ihn daraufhin, für den Vorstand eine 15-seitige Präsentation über Bielsa zu erstellen, Orta kam mit 50 Seiten. Aus der Verpflichtung wurde dennoch nichts, wie auch später bei Zenit, wohin Orta ihn ebenfalls gerne geholt hätte. Im vergangenen Frühjahr fragte ihn schließlich Andrea Radrizzani, der Besitzer von Leeds United, auf einer Autofahrt von London zurück nach Yorkshire, wer sein Lieblingstrainer sei. Orta sagte natürlich: »Bielsa! Aber ich halte es für unmöglich, dass er kommt.« Radrizzani antwortete: »Warum fragst du ihn nicht?« Orta rief Bielsa an und hinterließ eine Nachricht auf der Mailbox. Als der Trainer am nächsten Morgen zurückrief, hatte er schon sieben Spiele von Leeds United angeschaut.

Folterstrafe auf hässlichen Fußball

Bielsas Fußball ist zutiefst systematisch, mit vielen typischen Eigenheiten wie einer Dreierabwehr, flexibler Manndeckung und wechselndem Libero in der Abwehr. Das kunstvolle Angriffsspiel wirkt nicht nur durchchoreografiert, das ist es auch, weil er Spielzüge einübt. Das ist taktisch rigide, aber es gibt auch Freiräume und ist ein Fußball nicht nur für Spitzenspieler. Es gibt Bücher darüber, in Blogs wird die Spielweise analysiert, und in Argentinien stehen die Bielsistas derzeit samstags morgens um sieben Uhr auf, um die Übertragung der Leeds-Spiele anzuschauen. Jede Woche wird im Fernsehen in der wichtigsten Fußballdiskussionsrunde des Landes darüber debattiert, erzählt Orta. Über einen englischen Zweitligisten! Die kultische Begeisterung um den, der schon seit Jahren »El Loco« genannt wird, hat auch mit dem Überbau von Bielsas Fußball zu tun. Eines seiner berühmtesten Zitate ist: »Wer schönen Fußball dem Ergebnis opfert, den sollte man meiner Meinung nach foltern. Die Ärmsten unter uns haben nur den Fußball zur Entspannung. Ich würde es schrecklich finden, wenn wir ihnen nur Ergebnisse böten.«

Ganz klar ist auch Orta nicht, weshalb Bielsa letztlich nach Leeds gekommen ist: »Ich glaube, ihm hat die Herausforderung gefallen, einen Klub mit viel Geschichte wieder in die Premier League zu führen.« Auch früher schon hat Bielsa eher für emotionale Klubs gearbeitet, für Athletic Bilbao etwa, den Verein der Basken, wo er das Endspiel um den UEFA-Cup erreichte. Oder für Frankreichs Gefühlsmaschine Olympique Marseille.

Wenn man seinen Helden näher kommt, besteht oft die Gefahr der Enttäuschung. Bei Orta ist das mit Bielsa nicht so: »Ich war ein Fan, bevor ich mit ihm gearbeitet habe, inzwischen hat sich das vervielfacht.« Die Intensität des Mannes, der sich einst als Nationalcoach im Trainingszentrum des argentinischen Verbandes ein Zimmer einrichtete, um keine Zeit mit der Fahrt zur Arbeit zu vergeuden, schreckt Orta nicht. »Ich finde es phantastisch, abends um elf Uhr noch eine Stunde mit ihm über Fußball sprechen zu können.« Und das passt zu dem Ort, an dem diese beiden Verrückten zusammengefunden haben.

Große Fußstapfen

Gegenüber der Haupttribüne des Stadions steht eine mannshohe Bronzestatue, vor der ein Blumengebinde das Wort »GRANDDAD« bildet. Es ist das Denkmal für Don Revie, der Leeds United von einem Nebendarsteller des englischen Fußballs zum dominanten Klub der späten sechziger und frühen siebziger Jahre machte. Zwei Meisterschaften gewann er, zweimal den Vorläufer des UEFA-Cups und einmal den englischen Pokal. 1975 verlor Leeds das Europapokalfinale der Landesmeister unglücklich gegen den FC Bayern, weshalb die Münchner hier bis heute der bestgehasste deutsche Klub sind.

Die große Historie bedeutet auch, dass es in Leeds eine ungestillte Sehnsucht nach Größe gibt. Eddie Gray, der 19 Jahre für den Klub spielte, alle Titel mitgewann und heute, mit 71 Jahren, Kommentator des klubeigenen TV-Kanals ist, steht dafür. Der Schotte ist ein Mann mit festem Händedruck und klaren Ansichten: »Don Revie war ein Perfektionist. Und Bielsa hat in diesen Klub eine Intensität eingebracht, die in den letzten zwanzig Jahren gefehlt hat.« Revie war ein harter Mann, der hart spielen ließ, und zugleich ein schlauer Taktiker, der seine Spieler schon in den Sechzigern mit ausführlichen schriftlichen Dossiers auf ihre Gegenspieler vorbereitete. Doch Bielsa als eine Art von Wiedergänger des großen Mannes von einst zu sehen, »das ist noch verfrüht«, findet Gray. Aber ausgeschlossen ist es nicht.

In ihrer Klasse, Besessenheit und der besonderen Verbindung zum Publikum ähneln sich die beiden Trainer. Auch darin, alle im Klub gleich zu behandeln, vom Besitzer bis zur Wäschefrau. Aber wo Revie verschlagen war, ist Bielsa, der praktizierende Katholik, fast schon pathologisch ehrlich. Das wurde spätestens bei dem klar, was die englischen Medien »Spygate« nannten. Nach einer Niederlage von Derby County in Leeds Anfang Januar beschwerte sich deren Trainer Frank Lampard, dass sie einige Tage vor dem Spiel jemanden erwischt hatten, der im Auftrag von Bielsa ihr Training ausspioniert hatte. Zwar stellte sich heraus, dass der vermeintliche Spion schlicht von einem öffentlichen Weg aus zugeschaut hatte, aber da war die Aufregung schon riesig.

Eine denkwürdige Pressekonferenz


Als Leeds United daraufhin kurzfristig zu einer Pressekonferenz einlud, brach bei den Fans helles Entsetzen aus. Schließlich konnte das nur bedeuten, dass »El Loco« die Brocken hinwerfen würde. Doch stattdessen übernahm Bielsa zunächst die volle Verantwortung für die Affäre, um dann in einer 70-minütigen Präsentation offenzulegen, wie er seine Gegner analysiert. In der Vorbereitung auf ein Spiel würden insgesamt 300 Arbeitsstunden seines Trainerteams stecken, inklusive der Trainingsbeobachtung. »Wir fühlen uns schuldig, wenn wir nicht genug gearbeitet haben«, erklärte Bielsa bei dem schon jetzt historischen Auftritt. »Jetzt wisst ihr auch, warum wir unser Stadion nach ihm benannt haben«, twitterten die Newell’s Old Boys amüsiert. Seit 2009 spielt der Klub aus Rosario im Estadio Marcelo Bielsa.

Doch Bielsa ist nicht nur überehrlich und von ständigen Selbstzweifeln geplagt. Es gibt auch Zweifel an ihm. Verlangt er von seinen Spielern durch stets überlange Trainingseinheiten und ein ungeheuer laufintensives Spiel schlichtweg zu viel? Er bestreitet das und würde davon auch nie Abstriche machen. »Es ist so schwer, den Stil einer Mannschaft zu erschaffen, es dauert so lange und ist gleichzeitig so instabil. Wenn man ihn ändert, war er nicht stark genug. Und wenn man etwas leicht verändern kann, bedeutet das: Es war nicht schwer, das zu bauen.« Auch Orta, sein größter Fan, bestärkt ihn in dieser Haltung. »Es ist doch großartig, wenn ein Trainer alles aus den Spielern herausholt«, ruft er, springt theatralisch auf und macht eine Handbewegung, als würde er Wäsche auswringen. Überhaupt, jeder im Verein müsse dankbar dafür sein, von diesem Perfektionisten lernen zu dürfen. »Er will doch nur, dass wir ein besserer Klub sind, wenn er eines Tages geht.«

Bester Trainer der Welt ?


Wie bemisst man eigentlich Erfolg und Größe im Fußball? Darin, Klubs besser zu machen oder Spieler? An visionären fußballerischen Ideen und Konzepten? Oder schlichtweg an Titeln? Bielsa wurde im Laufe seiner fast 30-jährigen Karriere zweimal argentinischer Meister mit den Newell’s Old Boys und einmal mit Velez Sarsfield. Außerdem gewann er 2004 mit dem argentinischen Team die Goldmedaille bei Olympia. »Ich bin kein erfolgreicher Trainer. Eine der Sachen, die sie am meisten hören, wenn über mich gesprochen wird, sind die fehlenden Titel«, sagt er über sich. Doch Pep Guardiola widerspricht dem Mann, den er so bewundert: »Wir werden zwar danach beurteilt, wie viele Titel wir gewonnen haben. Aber das spielt eine geringere Rolle, als wie Bielsa den Fußball und seine Spieler beeinflusst hat.« Genau aus diesem Grund sei er für ihn eben der beste Trainer der Welt.

In Marseille wurde Bielsa im Stade Vélodrome mit einem Banner begrüßt, auf dem stand: »El Loco, haznos soñar«. Verrückter, lass uns träumen! Siege und Titel waren damit gemeint, aber nicht nur. Bielsas wahre Größe, geboren aus Obsession und Gelehrtheit, Selbstzweifel und Zerknirschung, liegt jenseits zählbarer Erfolge. Denn der Verrückte ist Hüter des Traums von der Magie und der Kraft des Fußballs.


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